Am Dienstag, dem 30. Oktober um Punkt 17 Uhr verlasse ich mein Büro mit dem Wissen, dass ich fast eine ganze Woche Urlaub vor mir habe. Ich freue mich. Mein Charly ist bei mir. Und wir wollen ins Elsass fahren, um dort am Sonntag gebührend seinen 40. Geburtstag zu feiern - natürlich mit einem netten Marathönchen als Sahnehäubchen.
(Zu dem
ich mich auch angemeldet habe, übrigens. Was wohl keinen wirklich erstaunt.)
Am Freitag fahren wir also los ins elsässische Jura. Noch am selben Abend schauen wir uns das schöne Basel an, und am Samstag ist das, wie ich finde,
noch schönere Colmar dran. Ich kannte Colmar zwar schon, bin aber wieder aufs neue restlos begeistert, wie bildschön es ist. Auch Charly ist sehr angetan, und das nicht nur wegen der leckeren Flammkuchen, die es dort gibt. Hier wollen wir wohnen, haben wir beschlossen.
Sonntagmorgen.
Ja, ist denn schon wieder Marathon - ?
Aber erstmal wird mein Charly zum Geburtstag mit all meiner Liebe überschüttet. Die kriegt er zwar jeden Tag, aber zum 40. gibt es dann doch noch mehr davon, ich hab da noch so einiges in Reserve. Wir frühstücken gemütlich, es gibt leckeres Baguette und Brioche mit Marmelade und Nutella, das nenn ich ordentliches Carboloading, und dann fahren wir los nach Ferrette, wo der Start ist. Das Wetter ist mal so eine richtig trübe Suppe. Nebel, kühl, windig, leichter Nieselregen. Super. Ist aber nicht schlimm. Wir laufen ja bloß Marathon.
Wir stehen zusammen am Start, und wir verabschieden uns für die nächsten paar Stündchen, ich wünsche Charly einen wunderschönen Geburtstagslauf. Ich habe nämlich darauf bestanden, dass wir es heute getrennt angehen - Charly soll ja auch mal wieder einen Marathon in seinem eigenen Tempo laufen und nicht immer nur im Hasentempo.
260 Teilnehmer sind dabei, schön übersichtlich ist das. Nach dem Startschuss geht es flott über die Startlinie, und ich habe, anders als in Berlin, keine Angst davor, dass mir jemand in die Hacken läuft oder dass ich totgetreten werde. Ich sehe Charly von dannen ziehen und versuche mein eigenes Tempo zu finden, was aber irgendwie schwierig ist, da es erstmal ordentlich bergab geht. Ich laufe und sehe immer noch Charly vor mir, dank seiner knallroten Jacke behalte ich ihn wunderbar im Blick. Ganz langsam entfernt er sich weiter von mir. Kurz vor dem ersten Kilometerschild packt mich dann so eine unbändige Lust, ihm noch einen motivierenden Klaps auf seinen süßen Po zu geben. Das muss jetzt noch sein, und das brauch ich auch für mich, das wird mir Glück bringen für diesen Marathon. Also lege ich einen ordentlichen Zahn zu, um ihn wieder einzuholen. Na, Hase, ob das so schlau ist, noch vor dem ersten Kilometerschild gleich einen richtigen Sprint hinzulegen? Egal, ich muss zu Charlys Po, das ist jetzt erstmal mein Ziel. Ich passiere das erste Kilometerschild und schaue auf meine Uhr - öhm. Ziemlich haargenau 5 Minuten. Das ist zu schnell!! Aber ich mache ja gleich langsamer. Ich hole Charly ein und haue ihm richtig schön genüßlich auf seinen knackigen Läuferpo. Er fällt fast in Ohnmacht - "was machst denn
DU hier ??!" - "Ich musste dir noch einen Glücksklaps geben. Jetzt lauf schön, ich bin dann jetzt auch wieder weg." Und damit lasse ich ihn endgültig ziehen.
Marathon macht Spaß. Das Schöne an diesem Marathon ist, dass er einerseits durch eine sehr schöne Herbstlandschaft führt, und andererseits durch ganze 14 Dörfer. Und bei jedem zusätzlichen Dorf, durch das ich laufe, bin ich immer mehr angetan und werde immer begeisterter - die Elsässer Zuschauer sind bombig. So etwas habe ich noch nie erlebt. In jedem Dorf (und es handelt sich hier um 200-Seelen-Käffer) stehen mehrere Gruppen von Leuten zusammen, jung und alt, alles dabei, und diese Leute geben einfach alles. Da wird absolut jedem einzelnen Läufer applaudiert, es wird gepfiffen, gejubelt, trompetet, die Menschen strahlen eine solche herzliche Begeisterung aus, sie scheinen sich riesig zu freuen, dass sie die Marathonläufer anfeuern dürfen und stören sich nicht im geringsten an dem Nieselregen, der nach wie vor fällt, dass es mir jedesmal ganz warm ums Herz wird und ich immer breiter grinsen muss. Ich bedanke mich bei den Gruppen, sage immer wieder, "merci... vous êtes super... c'est trop gentil... merci!", ich bin wirklich gerührt, und das wiederum freut die Zuschauer. Ganz oft bekomme ich zu hören, wie toll es ist, dass ich den Marathon mit einem Lächeln laufe, aber wie kann man bei solch einer herzlichen Kulisse
nicht lächeln? Ich stelle fest, dass ich diese kleinen, familiären Marathons den Riesen-Stadtmarathons eindeutig vorziehe. Was brauche ich 40.000 andere Läufer um mich herum? Das brauche ich nicht. So ist das doch viel schöner.
Ich schaue natürlich regelmäßig bei jedem Kilometerschild auf die Uhr und bemerke, dass ich für einen Marathon - das sind 42,2 Kilometer, Hase! - eigentlich ein bisschen zu schnell unterwegs bin, aber es macht mir keine weiteren Sorgen, da es gut läuft. Aber als ich dann bei Kilometerschild 7 auf die Uhr schaue, werde ich dann doch nervös. Die Uhr sagt 39 Minuten und 55 Sekunden. 7 Kilometer in unter 40 Minuten - das ist schnell. Für meine Verhältnisse ist das sogar dann schnell, wenn ich nur 7 Kilometer laufe und keine 42. In diesem Moment sage ich mir: Hase, entweder läufst du heute eine neue Bestzeit, oder du wirst zum ersten Mal bei einem Marathon so richtig ordentlich einbrechen.
Lassen wir es auf uns zukommen.
Es geht dann genau in dem gleichen Schema weiter: ich genieße die schöne Elsässer Landschaft, in der ich alleine auf weiter Flur bin, und ich genieße in den Dörfern die herzlichen und motivierenden Zuschaueranfeuerungen. Das Publikum bleibt bis zum Schluss allererste Sahne.
Ab Kilometer 25 fangen meine Füße an, wehzutun, aber das kenne ich, ein Marathon ist nun einmal weit, das macht nichts. Ich schließe zu zwei Läufern auf, die mich bei Kilometer 5 überholt hatten. Ich höre, wie der eine dem anderen erklärt, "... du darfst nicht denken, dass nur du Schmerzen hast. Alle haben Schmerzen. Das ist Marathon, und Marathon tut weh. Du bist da nicht alleine. Diejenigen, die den Marathon in unter 3 Stunden finishen, haben Schmerzen, der, der als Letzter ins Ziel kommt, hat Schmerzen, und auch dieser Dame, die uns gerade überholt (er meinte mich), tut alles weh. Oder? Können sie mir das bestätigen? Tut Ihnen auch alles weh?" Ich nicke und sage, "ja, absolut. Klar. Keine Frage." Dazu grinse ich breit. Der Tröster will von mir wissen, ob das mein erster Marathon ist. Ich sage, nein, das ist mein vierter - und mein vierter dieses Jahr. Er zeigt sich beeindruckt und sagt mir, dass es für sie alle beide der erste sei. An dieser Stelle meldet sich zum ersten und zum einzigen Mal der andere Läufer, der glaubt, mit seinen Schmerzen allein zu sein, zu Wort: "Und es ist auch unser letzter, übrigens!!" Dann verfällt er wieder in Schweigen. Der Gesprächigere von den beiden will noch mehr Einzelheiten über meine anderen Marathons erfahren, und als ich erwähne, dass ich am 30. September in Berlin gelaufen bin, sagt er, oh, Berlin. Da habe er schon sehr viel davon gehört, und da müsse die Stimmung doch so unglaublich einmalig sein?, worauf ich erwidere, "nun, ich persönlich finde die Stimmung hier im Elsass viel netter und herzlicher", und das meine ich auch tatsächlich so.
Jetzt merke ich aber, dass mir das Tempo ein bisschen zu gemächlich wird, und ich verabschiede mich von den beiden und laufe vor.
Kilometer 26 bis 30 finde ich immer besonders fies. Man hat schon einen richtig langen Lauf hinter sich, aber eben auch noch ganz schön viel vor sich. Ab Kilometer 30 kann ich mich dann wieder besser motivieren, denn jetzt sind es ja nur noch 12 Kilometer, und 12 Kilometer gehen immer, irgendwie. Eine herrliche Ablenkung bieten auch immer die Verpflegungsstände. Die Versorger sind absolut herzlich und besorgt, "nicht nur trinken, essen Sie auch was, das ist wichtig!", und das lasse ich mir nicht zweimal sagen, denn das Bufett bietet wieder einmal alles. Es gibt nicht nur mein unschätzbar wertvolles Cola, sondern auch warmen Tee, Orangen, Kuchen, Trockenpflaumen, getrocknete Aprikosen, Lebkuchen, Schokolade, Müsliriegel.... ich halte mich aber ncht lange auf, da ich doch noch so ein bisschen die Uhr im Blick habe. Es könnte doch tatsächlich was werden mit der Bestzeit. Meine bisherige Würzburg-Bestzeit von 4:33 könnte ich tatsächlich knacken, und wenn es richtig gut läuft, wird es vielleicht sogar eine Sub-4:30, so eine nette 4:29 wär doch super? Schauma mal. Ich mag mir aber keinen Stress machen. Bei jedem zusätzlichen Kilometer tut es jetzt mehr weh. Ab Kilometer 35 kann ich es nicht anders sagen, mir reichts, es schmerzt, ich hab die Nase voll. Aber umdrehen wär jetzt auch blöd. Bei Kilometer 36 denke ich an Berlin und daran, wie ich geweint habe und nicht mehr konnte und nicht mehr wollte, und ich motiviere mich dadurch, indem ich mir sage, dass es mir doch heute um Klassen besser geht. Irgendwie kämpfe ich mich durch die letzten Kilometer, 38, 39, 40.... ich überhole noch ein paar Läufer, die mir alle "bravo" zurufen, als ich an ihnen vorbeiziehe, was ich auch sehr nett und fair finde. Ich freue mich jetzt nur noch aufs Ziel und darauf, Charly in die Arme zu fallen und ihn wieder ein bisschen vollrotzen zu dürfen - und meine Wimperntusche will ja auch wieder an den Mann gebracht werden. Jetzt riecht es nach Ziel. Nach Kilometer 41 laufe ich an unserem Auto vorbei.
Und wer steht da gerade in Unterhose und zieht sich um? Charly!! Er schaut auf, sieht mich, und sagt nur ganz erstaunt, "Hase - ?!!" und schaut auf die Uhr, so auf die Art, was willst du denn jetzt schon hier?! Tses, dann werd ich wohl keinen Charly im Ziel finden.
Aber auf ihn warten mag ich jetzt auch nicht :-)
Ich breeze die letzten paar hundert Meter nochmal los, was das Zeug hält, die letzten dreihundert Meter sind richtig fies, weil es ordentlich bergab geht, viele gehen hier, weil die Knochen wohl keinen Bergab-Endspurt mehr mitmachen wollen, aber ich will ins Ziel
laufen. Das mache ich auch, ich überquere die Ziellinie, und ich schaue auf meine Uhr. Und dann bin ich richtig überwältigt und muss losschluchzen. Ach Charly, wo bist du denn. Ich will diesen Moment doch mit dir teilen.
Meine Uhr sagt
4 Stunden, 24 Minuten!!!Ich freue mich wahnsinnig. Und das fünf Wochen nach Berlin, wo ich mir sicher war, dass ich die 4:33 von Würzburg nie wieder würde erreichen können. Keinen langen Lauf habe ich seitdem mehr gemacht.
4:24 !!!Und das bei immerhin 300 Höhenmetern.
Irgendwann kommt dann auch Charly eingetrudelt und ist völlig überwältigt - ja Hase, was machst du denn schon hier? Mit dir habe ich ja noch gar nicht gerechnet? :o)))
Bei Charly wurden es diesmal 3:56. Mit einem Besuch von Herrn Hammermann bei Kilometer 41, auch nicht schlecht, oder? Aber davon wird er selber auch noch erzählen.
Ich hab auch diesmal wieder keine Bekanntschaft mit diesem Herrn gemacht. Muss ich wohl noch ein bisschen schneller laufen, wenn ich auch endlich mal in den Genuss kommen will.
Schauen wir mal, was ich nächstes Jahr so zusammenlaufen könnte.
Denn: das war definitiv mein letzter Marathon
für dieses Jahr, versprochen ;-)
Zum Schluss noch eine statistische Zusammenfassung meiner Marathons:
15. April 2007 - Marathon du Charolais - 4:42
13. Mai 2007 - Würzburg-Marathon - 4:33
30. September 2007 - Berlin-Marathon - 4:44
04. November 2007 - Marathon du Jura Alsacien -
4:24
*freu*