Aua.
Ich wußte nicht, daß Füße so sehr wehtun können.
Ich wußte auch nicht, was Cola für ein geniales Getränk ist.
Aber es gibt noch so sehr viele mehr Sachen, die ich nicht wußte, deswegen von vorne.
Samstag, 14.04.2007, 19.30 Uhr.
Charly und ich haben unsere Startnummern bereits abgeholt und begeben uns zu der abendlichen Pasta-Party – auf französisch „pastaa partiiie“. Wir betreten den Saal und sind erstaunt – wir sehen eine festlich gedeckte Tafel mit weißer Tischdecke und fein gefalteten Servietten in unterschiedlichen Farben, dazu Brotkörbe auf den Tischen, ach so, wir sind in Frankreich, und gegessen wird hier immer mit Stil, sogar bei einer ländlichen Prä-Marathon-Pastaa-Partiiie. Wir sitzen am Tisch mit lauter Profi-Läufern (dasfür halten sie sich zumindest) und genießen zunächst einmal die Vorspeise – ja, bei einer französischen Pastaa-Partiiie gibt es zu dem Riesenberg Nudeln auch eine Vorspeise, einen Käsegang und ein Dessert. Alles sehr lecker! Weniger erfreulich ist das Geschwätz unserer Tischnachbarn. Ich bin immer noch einigermaßen ruhig und möchte das eigentlich auch ganz gerne bleiben, aber das ist schwierig angesichts der vielen Dinge, die ich mir anhören muß. Es geht von „morgen gibt es übrigens 30° im Schatten“ bis „das Profil der Strecke ist extrem schwierig, sehr sehr SEHR hügelig“. Ich werde immer kleinlauter und Charly fragt mich, was los ist. Ich sage ihm, daß ich ihn an diesem Abend sehr darum beneide, daß er das besserwisserische Geschwätz um uns herum nicht versteht. Er beruhigt mich und sagt mir, daß das vor einem Marathon ganz normal ist und dazugehört, und lacht einfach darüber. Leider schaffe ich das nicht ganz so gut wie er.
Erstaunlicherweise schlafe ich trotzdem gut in dieser Nacht.
Sonntag, 15.04.2007.
Am nächsten Morgen schauen wir aus dem Fenster und stellen fest, daß Nebel ist. Richtig dichter, dicker Nebel. Dazu ist es fast windstill und hat 11°, als wir uns zum Marathonstart begeben (natürlich erst nach einem ausführlichen Croissant-und-Baguette-Frühstück, und nach einer noch sehr viel ausführlicheren Mit-Vaseline-und-Sonnenmilch-eincrem-Partiiie, ersteres gegen den bösen Wolf und zweiteres gegen den bösen Sonnebrand). Wir frösteln in unseren ärmellosen Oberteilen und kurzen Tights, und sind demzufolge wohl genau richtig angezogen.
Während die Franzosen sich natürlich wie wild schon eine halbe Stunde vor Start warmlaufen, setzen wir uns an den Bordstein und frösteln vor uns hin. Mann, ich muß gleich 42 Kilometer laufen, ich weiß sowieso nicht, wer diese blöde Idee hatte, da wird ich doch nicht auf die Schnapsidee kommen, mich vorher noch warmzulaufen ! Ich kuschele mich in Charlys Arme, und meine Gedanken fahren Karussell. Mann, Hase, das schaffst du doch nicht. Marathon. Das sind 42 Kilometer. Ich hab Angst. Aber ich darf mich nicht allzusehr in diese trüben Gedanken verlieren, denn wenig später ertönt schon der Startschuß und wir laufen los. Das Gedränge am Start hält sich in Grenzen, denn es gibt nur 160 Teilnehmer, und so laufen wir schon ca. 4 Sekunden nach Startschuß über die Startlinie, obwohl wir ganz hinten standen.
Es geht los.
Au weia.
Wir bleiben hinten – wir sind fast die letzten. Zwei Damen laufen noch hinter uns, aber alle restlichen 156 Marathonläufer laufen vor uns. Ist mir egal, wenn ich Letzte werde. Ich laufe in meinem Rhythmus. Ich will ihn nur schaffen, diesen Marathon.
Charly lächelt mich an, und ich schwanke zwischen Euphorie – ich laufe Marathon !! – und Panik – ich laufe Marathon !!
Von Kilometer 2 bis Kilometer 5 geht es ständig bergauf, das wußten wir, wir hatten das Profil schon vorher gesehen, und irgendwie hatte ich mich auf eine richtige „Wand“ gefaßt gemacht, aber dem war nicht so, es war einfach nur eine schöne, angenehme, moderate Steigung. Geht doch. Es läuft gut. Ich schaffe das.
Und dann krieg ich eine Krise. Auf einmal und völlig aus heiterem Himmel – nach Kilometerschild 5. Charly merkt, daß mich etwas beschäftigt, und fragt mich, ob es mir gut geht. Und ich motze los. „Nein. Mir geht es nicht gut. Wer hatte überhaupt diese blöde Idee mit dem Marathon ? Das schaffe ich doch NIE !! Schau mal, jetzt haben wir gerade mal 5 Kilometer hinter uns, und noch 37 vor uns ! Das ist doch Irrsinn ! Was mach ich hier ? Marathon, Mann ! Das ist doch nur blöd !“ Der arme Charly ist erstmal sprachlos. Mit so einer Tirade hat er wohl allerfrühestens ab Kilometer 28 gerechnet, aber ganz sicher nicht ab Kilometer 5. Mir geht es dann aber auch schon wieder besser, nachdem ich das rauslassen durfte, und jetzt können wir einfach laufen.
Wir laufen immer noch am Schwanz der Truppe, aber alle Kilometer schön gleichmäßig in einem Schnitt von 6:15 bis 6:25. Es ist ok.
Was mich tierisch nervt: ich muß ständig austreten. Es ist unglaublich. Klar, ich hatte ordentlich getrunken, aber das mache ich bei Halbmarathons auch immer, und ich mußte noch bei keinem einzigen HM auch nur einmal austreten. Bei diesem Marathon geht es bei Kilometer 6 schon los, und dann reißt es nicht ab, alle paar Kilometer verabschiede ich mich zur Pipipause in die Büsche.
Meine nächste Krise kriege ich bei Kilometer 17. Ich komme mal wieder von meiner Pipipause zurück, hole Cahrly wieder ein, und pflaume ihn gleich mal an, „Ich lauf dir doch zu langsam, oder ? Du willst doch schneller laufen. Ist doch klar, daß dieses Gekrieche zu langweilig für dich ist.“ Charly macht das einzig Richtige und bremst mich sofort in meiner Motztirade – „nein, Hase, lass stecken. Ich will so einen Blödsinn jetzt echt nicht hören. Lauf einfach.“ Charly weiß schon, wie er mit mir reden muß, wenn ich zu spinnen anfange :)
Bei den Verpflegungsständen ist es nett. Dadurch, daß die „Masse“ an Läufern schon durch ist, wenn wir kommen, nimmt sich das Verpflegungsteam richtig schön Zeit für uns. Wir unterhalten uns, trinken Wasser, essen Bananen, Kuchen, getrocknete Aprikosen, diese netten Menschen reichen uns alles, was unser Herz begehrt, und ich mache die Entdeckung, was für ein geniales Getränk Cola ist. Ja Wahnsinn. Erstens schmeckt es einfach nur unglaublich gut, und zweitens läuft es gleich wieder viel besser, wenn man so einen Becher Cola getrunken hat ! Cola ist jetzt mein Lieblingsgetränk – aber nur beim Marathon :)
Irgendwann passieren wir die 20-km-Marke, und ich denke daran, wie es mir hier beim Halbmarathon immer geht. Beim Halbmarathon hab ich es jetzt schon lange satt, und ich sehne nur noch das Ende herbei, und der letzte Kilometer zieht sich dann aber immer noch ewig hin. Aber jetzt laufe ich Marathon, und ich habe noch nicht einmal ganz die Hälfte, und ich weiß, daß ich solche Gedanken jetzt nicht denken darf. Das wäre tödlich. Also denke ich sie nicht, und laufe weiter. Jetzt isses ja nur nochmal ein Halbmarathon, das kenne ich doch, kein Problem. Man läuft so einen Marathon wirklich zu einem großen Teil im Kopf !
Jetzt möchte ich aber noch ein Wort zu der Landschaft verlieren. Die Strecke ist wunderschön. Zuschauer sind rar gesät, nur in den paar Dörfern, durch die wir laufen, gibt es ein paar, Kühe gibt es viel mehr als Zuschauer (huhu, Anja :) , aber die Strecke ist ein einziger Traum. Wir laufen mitten durch die wunderschönste Burgunder Natur. Alles ist grün, alles blüht, die Vögel zwitschern, und das Wetter könnte perfekter gar nicht sein. Der Nebel bleibt uns bis nach elf Uhr erhalten, es ist die angenehmste Lauftempetatur, die man sich vorstellen kann, und als dann die Sonne durchkommt, wird es trotzdem nicht wirklich heiß, sondern einfach nur angenehm warm, maximal 23°.
Und so laufen wir unabdinglich auf die 30-km-Marke zu. Und darüber. Meine Füße sind jetzt müde, aber ich laufe einfach weiter. Nach Kilometer 32 wird mir klar, und ich sage es auch zu Charly, daß das jetzt völliges Neuland für mich ist. Ich bin noch nie mehr als 32 Kilometer gelaufen. Ich merke, daß ich – ganz ungewollt – warte. Auf den Hammermann. Auf den Wolf. Auf die Mauer. Anja hat gesagt, der Hammermann und der Wolf werden nicht kommen, und ich hoffe, daß sie recht hat, aber trotzdem warte ich. Schließlich sind wir jetzt schon fast bei Kilometer 35 ! Da muß doch wenigstens ein klitzekleines Hammermännchen kommen ?! Nein, tut es nicht. Ich stelle fest, daß mir zwar die Füße wehtun, aber sonst gar nix, und daß es mir jetzt besser geht als bei Kilometer 5. Charly fragt mich immer wieder, wie es mir geht, und ich sage zögerlich, „gut...“, aber nur zögerlich, weil ich dem Frieden nicht so recht trauen mag. Das kann doch nicht sein ? Bei meinen 30-Kilometer-Läufen war ich nach 30 km am Ende, fertig, aus, nix ging mehr, kein Meter ! Und jetzt nähere ich mich der 36-km-Marke, und ich laufe vor mich hin, als wäre nichts ? Hm, anscheinend. Ich möchte auch nicht unerwähnt lassen, daß wir inzwischen ganz hurtig am Überholen sind. Wir ziehen an einigen Läufern vorbei, die können einfach nicht mehr schneller, aber bei mir geht noch was. Als wir das 36-km-Schild passieren, wird mir zum ersten Mal richtig klar, daß es mir gut geht und daß ich hin wohl tatsächlich schaffen kann, diesen Marathon. Das gibt mir einen ganz ungeheuren Schub. Ich laufe schneller, aber ich merke es nicht. Ich merke es erst, als Charly mir bei Kilometer 37 sagt, daß ich diesen Kilometer jetzt in 6:15 gelaufen bin. Was ? Wie jetzt ? So schnell ? Gibt’s nicht. Ich hab damit gerechnet, daß ich diese letzten Kilometer in einem 8-er Schnitt laufen würde. Jetzt geht die Euphorie mit mir durch, der nächste Kilometer wird in 6:10 gelaufen, und dabei wird weiter überholt. Ja mei, ist das genial, Marathon zu laufen. Km 38 laufe ich in 6:06. Charly läßt mich jetzt, er bremst mich nicht mehr, er sagt, jetzt sind es nur nur noch drei, da kann nichts mehr schiefgehen, dir geht’s gut, lass es laufen wie du willst. Und so laufe ich Kilometer 39 in 6:01, und Kilometer 40 in unglaublichen 5:51. Unter sechs Minuten !!
Bei Kilometer 40 muß ich zum erstenmal richtig arg schlucken und kämpfe mit den Tränen. Wow. Wahnsinn. Ich werde diesen Marathon finishen, ich überhole weiter, und ich werde mein Ziel, unter 5 Stunden zu bleiben, wohl auch erreichen ! Lustigerweise denke ich jetzt zum erstenmal seit Fallen des Startschusses an jemanden, der mir in den letzten Wochen ganz schön viele (unnötige) Sorgen gemacht hat – an meine Achillessehne. Nein, ich habe sie überhaupt nicht gespürt, kein bißchen, nicht die Spur, und werde sie jetzt wohl auch nicht mehr spüren. Ich muß über mich selber grinsen. Ich laufe Kilometer 41 wieder in 5:51 und werde jetzt von meinen Emotionen total übermannt. Ich muß mir selber sagen, Hase, im Ziel darfst du heulen soviel du willst, jetzt laufe bitte einfach diese 1200 Meter irgendwie noch durch. Charly schaut mich zu diesem Zeitpunkt schon ganz entrückt an und sagt, daß er sehr stolz auf mich ist. Bei Kilometer 42 verkündet er mir wieder meinen Schnitt: 5:47 sind es diesmal. Das ist doch nicht zu fassen ! Ich laufe jetzt vor ihm, es sind nur noch 200 Meter, und ich heule jetzt schon los, kämpfe aber trotzdem noch mit den Tränen, ich will erst im Ziel heulen, ich muß dazu aber ganz gewaltig schlucken. Ich sehe das Ziel, ich höre noch, wie Charly zu mir sagt, jetzt mach doch mal langsam Hase, den Zieleinlauf mußt du genießen, nicht durchbreezen ! Ich laufe über die Ziellinie, die netten Zuschauer applaudieren wie wild, ich bin drin im Ziel, Charly auch, gleich hinter mir ist er, und ich drehe mich um, falle ihm einfach nur um den Hals und heule Rotz und Wasser. Ich bin sowas von überwältigt, ich kann einfach nur an Charlys Hals hängen und heulen.
Ich bin gerade einen Marathon durchgelaufen !
Charly hält mich ganz fest und läßt mich sein neues Laufshirt mit Rotz, Tränen und Wimperntusche vollschmieren.... im Hintergrund und wie in Trance höre ich die Stimme des Sprechers durchs Mikrophon. „Sehen Sie sich das an... das sind Kerstin und Charly.... ist das nicht ein wunderschönes Bild. Kerstin, ist das Ihr erster Marathon ?“ Ich nicke nur schniefend, und er spricht weiter, „Es ist ihr erster Marathon. Sehen Sie sich diese Emotionen an, meine Damen und Herren, hach, muß Liebe schön sein. So ein schönes Bild....“
Ich bin heute tatsächlich meinen ersten Marathon gelaufen. Ohne Hammermann. Ohne Wolf. Ohne Hitze. Ohne Mauer.
Aber dafür mit meinem geliebten Charly an meiner Seite.
In 4 Stunden und 42 Minuten.
Ich muß schon wieder losheulen.
Und mir tun die Füße weh :)