Aua.
Mir tut restlos alles weh. Nur nicht die Achillessehne. Und deswegen geht's mir ja soooo gut :o)
Aber von vorne.
Mit sehr gemischten Gefühlen mache ich mich heute auf den Weg zu meinem langen Lauf. Den Grund für diese gemischten Gefühle kann man in meinem Eintrag von gestern nachlesen - es sind nichts weiter als absolut paranoide, hypochondrische Hirngespinste, und deswegen reiße ich mich zusammen und laufe los. Es ist sonnig und schön warm, es hat um die 25°, aber das macht mir nichts aus, ich mag diese Temperatur. Was meinen verkorksten Kopf mitsamt seinen Ängsten angeht, sind die ersten zwei Kilometer die schlimmsten. Ich horche krampfhaft in mich hinein. Na? Tut schon was weh? Nein? Hm. Komisch. Aber jetzt doch, da war doch was? Nein, immer noch nicht? Na gut, dann kann ich ja genausogut versuchen, mich ein kleines bisschen zu entspannen und diesen schönen Sonnenlauf zu genießen, das wäre sicher auch nicht das Verkehrteste. Ich habe mir für heute eine herrliche 31-km-Runde ausgesucht, die auch ein schönes Bonbon fürs mentale Durchhalten ist, denn es handelt sich ausschließlich um Dörfer, durch die ich schon gelaufen bin, ich kenne sie alle acht sehr gut - aber ich habe sie noch nie alle zusammen in einem einzigen Lauf abgehoppelt. Und so denke ich immer nur in Etappen, ich halte mir nie die ganzen 31 Kilometer vor Augen, sondern immer nur die Strecke bis zum nächsten Dorf. Und das klappt sehr gut. Nach sechs Kilometern lande ich in Cernois, und es geht mir prächtig. Wovor hatte ich eigentlich solche Angst? Ich will diesen Lauf jetzt mit allen Sinnen genießen. Das wird aber jetzt erst einmal unterbrochen, da ein Landwirt aus seiner Scheune tritt - ich schätze ihn auf über 80 - und mich freundlich lächelnd und fast zahnlos anspricht. Ich nehme meine Kopfhörer aus den Ohren und frage freundlich, pardon? Und dann ergibt sich der folgende Dialog, der mich köstlich amüsiert hat - ich schreibe ihn mal im Original auf, für die frankophilen Leser, und versuche ihn dann einigermaßen sinngemäß zu übersetzen. Die vielen r's sollen nur den Burgunder Dialekt ausdrücken, die gehören natürlich in Wirklichkeit da so nicht hin - aber die ältere Burgunder Generation rollt die r's so herrlich, ich finde das so herzig.
Version française:
Opi: Jolie demoiselle, bonjourrrr... vous êtes sporrrrtive, hein ?
Hase: Euh... oui :)
Opi: Vous courrrrez ou, comme ça?
Hase: Je viens de Semur, je passe ici par Cernois pour aller à Sauvigny, à Vic, à Pouligny, à Genay, à Milléry, à Charentois, et puis je vais retourner sur Semur....
Opi - völlig von den Socken: Vous allez jusqu'à CHARRRRENTOIS!! Eh ben, eh ben !! C'est forrrrt, ça! Vous êtes vrrrrraiment sporrrrtive, hein ?
Hase: Oui, je crois....
Opi: Et - excusez ma currrriosité - je vois que vous avez des écouteurrrrs, là - c'est quoi?
Hase: J'écoute de la musique avec ça....
Opi: Eh ben, de la musique!! C'est extrrrraordinaire, ça! On n'arrête pas le prrrrrogrrrrès! Et puis, vous êtes bien sporrrrtive, quand même, hein?
Hase: (mittlerweile richtig breit grinsend) Oui.....
Opi schaut mir mittlerweile ganz unverhohlen auf meinen Bauch (ich trage ein bauchfreies Top), ich habe den Eindruck, er würde mir einfach gerne mal in den Bauch kneifen, und ich gehe rein sicherheitshalber zwei Schritte zurück.
Opi: Eh ben, eh ben. C'est bien, ça. Ça me plaît. Vous êtes bien sporrrrtive!
Hase: Oui... j'aime ça. Mais je vais y aller maintenant.... c'était chouette de discuter avec vous.... bon dimanche!
Opi schaut mir immer noch auf den Bauch. Oui, courrrrez bien, jolie demoiselle.... au revoir! Vous êtes bien sporrrrtive!
Deutsche Fassung:
Opi: Hübsches Fräulein, bonjourrrrr ... Sie sind aber so rrrrichtig sporrrrrtlich, was?
Hase: Öhm... ja :)
Opi: Wo rrrrennen Sie denn hin?
Hase: Ich komme aus Semur, jetzt bin ich in Cernois , und dann geht es weiter nach Sauvigny, nach Vic, nach Pouligny, nach Genay, nach Milléry, nach Charentois, und dann wieder zurück nach Semur....
Opi - völlig von den Socken: Sie laufen bis nach CHARRRRENTOIS!! Ja sowas !! Ja sowas! Das ist starrrrk! Sie sind aber rrrrichtig sporrrrtlich, was?
Hase: Ja, ich glaub schon....
Opi: Und - entschuldigen Sie meine Neugier! - ich sehe, dass Sie Kopfhörrrrer haben - wofürrr sind die?
Hase: Damit höre ich Musik....
Opi: Ja sowas! Musik!! Das ist ja wunderbarrrr! Der Forrrtschrrritt geht immer weiter! Und außerdem sind Sie aber rrrrichtig sporrrrtlich, was?
Hase: (mittlerweile richtig breit grinsend) Ja, doch.....
Opi schaut mir mittlerweile ganz unverhohlen auf meinen Bauch in meinem bauchfreien Top, ich habe den Eindruck, er würde mir einfach gerne mal in den Bauch kneifen, und ich gehe rein sicherheitshalber zwei Schritte zurück.
Opi: Na sowas aber auch. Na sowas. Das gefällt mir. Das find ich gut. Sie sind aber rrrrichtig sporrrrrtlich!
Hase: Ja.... ich liebe das Laufen. Jetzt laufe ich aber mal weiter.... war nett, mit Ihnen zu plaudern... einen schönen Sonntag!
Opi schaut mir immer noch auf den Bauch. Ja, rrrrennen Sie schön weiter, hübsches Frrrräulein.... au revoir! Sie sind aber rrrrichtig sporrrrlich!
Die 2 Kilometer von Cernois bis Sauvigny musste ich dann in einem durch nur grinsen - dieser Opi war einfach zum Quietschen. Zum Glück habe ich ihn nicht um ein Glas Wasser gebeten, sonst wäre ich jetzt immer noch dort.
Sauvigny ist ein 5-Häuser-Kaff, in dem es doch tatsächlich ein Café gibt, das auch noch sehr einladend aussieht. Da müssen wir mal einkehren. Aber nicht heute. 2 Kilometer nach Sauvigny komme ich nach Vic de Chassenay - das Dorf mit meinem Lieblingsbrunnen. Ich lege meine erste wohlverdiente Trinkpause ein und laufe frisch gestärkt weiter. Von hier aus sind es jetzt 4 Kilometer bis Pouligny. Es läuft richtig gut. Ich entspanne mich immer mehr. Als ich von Pouligny bis nach Jeux-les-Bard laufe, muss ich daran denken, als ich hier vor ein paar Wochen mit Charly gelaufen bin. Wir hatten uns auf einen 10-km-Lauf aufgemacht, bei dem wir uns leicht verschätzt hatten, weil es sich nämlich in Wirklichkeit um einen 13-km-Lauf gehandelt hatte. Und wir waren auf den letzten drei Kilometern ja so am Ende - weil unser Kopf auf 10 km eingestellt war und nicht auf 13. Daran muss ich jetzt denken, und dass es mir doch heute viel besser geht, obwohl ich jetzt schon über 13 km in den Beinen habe - weil ich heute eben auf 31 Kilometer eingestellt bin, da darf man nach 13 km noch nicht schlappmachen. Ich durchquere Jeux-les-Bard und schlage den Weg in Richtung Genay ein und wage mich zum ersten Mal ein bisschen darüber zu freuen, wie gut es mir doch geht? Jetzt hab ich ja eigentlich schon die Hälfte, und gar nix tut weh? Nicht mal im Kopf, das ist das Erstaunlichste! Die ca. 5 km bis Genay kommen mir dann auf einmal recht lange vor, es zieht sich. Aber mir geht es gut. In Genay muss ich dann meine Mini-Karte zu Rate ziehen, da ich weiß, dass ich hier irgendwo rechts abbiegen muss nach Milléry, ich weiß aber nicht so genau wo. Ziemlich am Anfang des Dorfes, sagt die Karte. Na gut - dann biege ich doch gleich hier rechts ab. Beschildert ist hier aber nichts, und ich habe das ungute Gefühl, auf der falschen Fährte zu sein. Einen größeren Umweg zu laufen wäre jetzt arg blöd. Ich laufe nur sehr zögerlich weiter, hm, was tun?, als ich die Rettung in Form einer auf einen Balkon verbannten Raucherin sehe. Da lobe ich mir doch das neue Anti-Rauch-Gesetz, ohne das ich doch glatt um diese wertvolle Auskunft gekommen wäre! ;-)
Ich laufe auf die Dame zu und frage sie, ob es hier nach Milléry geht. Sie antwortet mir, "ouh là.... non, pas du tout!", was soviel heißt wie "oh je, nein, absolut nicht!" Sie weist mir die richtige Richtung, ich bedanke mich und drehe um. Na gut, ein paar hundert Meter Umweg kann ich verkraften. Beim Weiterlaufen denke ich mir noch, dass ich sie doch eigentlich um ein Glas Wasser hätte bitten können - verpasst. Heiß ist mir mittlerweile auch. Aber spätestens in Milléry gibt es einen Friedhof mit wunderbarem frischem Wasser. In der Ortsmitte habe ich noch einmal Zweifel, Genay ist aber auch ein großes Dorf!, ich frage noch einmal drei Herren nach dem Weg, die gerade den französischen Volkssport Pétanque spielen. Diese Auskunft fiel sehr mürrisch und unfreundlich aus, weiß der Geier warum, pfff, ihr könnt mich mal, und nach Wasser frage ich euch mit Sicherheit auch nicht. Ich laufe die Straße in Richtung Milléry hoch und komme, oh Freude, das wusste ich nicht, am Friedhof von Genay vorbei. Ich halte an und trete ein - jetzt freue ich mich aber aufs Trinken. Ich durchquere den ganzen Friedhof - und finde keinen Wasserhahn. Der Friedhof von Genay hat doch tatsächlich keinen Wasserhahn! Blödes Kaff. Ich muss mich wieder in Bewegung setzen, ohne etwas getrunken zu haben, und jetzt fängt es an, mir schwerzufallen. Meine Beine werden schwer, alles wird schwer, mir reicht es jetzt eigentlich. Ich habe auch schon ca. 23 Kilometer hinter mir. Jetzt muss ich mir selber Mut zusprechen - ist nicht mehr weit bis Milléry, in Milléry darfst du trinken, und von Milléry bis Semur sind es dann nur noch fünf Kilometer, ein Klacks.... nein, es ist kein Klacks, es läuft zäh jetzt, aber es läuft, und die Achillessehne tut überhaupt nicht weh. Ist das nicht das Wichtigste? Ich kämpfe mich bis nach Milléry, lasse mich dort genüsslich neben dem Wasserhahn im Friedhof nieder, das will ich jetzt genießen, ich setze mich hin und lasse mir das frische, klare Wasser über die Hände laufen, schütte mir etwas davon über den Kopf und mache mir die Haare nass, wieso ist es eigentlich Mitte September so heiß?, und ich trinke. Ich trinke und trinke, minutenlang, bis mein Bauch anfängt zu gluckern, dann drehe ich den Wasserhahn zu und laufe weiter. Puh. Noch gut fünf Kilometer, die werde ich doch schaffen? Jetzt fällt mir auch auf, dass es mittlerweile viertel nach zwei ist, und dass ich mein Frühstück um viertel vor neun beendet habe. Seitdem habe ich nichts mehr gegessen, nur noch Wasser getrunken. Da darf man sich nach 26 gelaufenen Kilometern schon mal ein bisschen schlapp fühlen, aber - das ist Training! Gebt mir in Berlin ein Stück Banane nach 26 km, und ich werde fliegen! Die letzten drei Kilometer sind richtig hart, mir reicht es, ich mag nicht mehr, ich kann nicht mehr, mir ist heiß, ich habe Hunger, ich habe Durst, und ich schlappe in einem gefühlten 8-Minuten-Schnitt vor mich hin und verfluche den Berlin-Marathon. Aber gleichzeitig bin ich einfach nur stolz auf meine Achillessehne. Sie tut einfach nicht weh! Kein bisschen, und das, obwohl ich ihr doch nun schon wochenlang einrede, dass sie eigentlich wehtun müsste?! Ist sie nicht lieb? Ich bin gerührt von ihrem hartnäckigen Widerstand und spreche ihr in Gedanken ein dickes Lob aus, wir werden es noch weit zusammen bringen, meine Achillessehne und ich, zumindest werden wir den Berlin-Marathon zusammen durchlaufen - sollte ich diese vermaledeiten 31 Kilometer heute überleben, aber das wäre doch gelacht!
Als ich vor meinem Hasenstall ankomme, bin ich tot - alles tut mir weh - alles außer der Achillessehne, und das ist das Höchste der Gefühle. Ich bin jetzt so froh, dass ich diese 31 km gemacht hab und mich nicht von meiner völlig saublöden Paranoia ins Bockshorn habe lassen.
Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!
Für die Statistik: 31 Kilometer in 3 Stunden und 24 Minuten, 344 Höhenmeter.
Dunkle Tage
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Kurz noch ein Thema, das ich bereits vor Wochen angeschnitten hatte: Das
Blogsterben: in den 17 Jahren, in denen ich kontinuierlich und sehr gerne
blogge, ...
vor 2 Tagen